Eine Situation am morgen löst es mal wieder in mir aus: das Gefühl zu kurz zu kommen, dass es anderen besser geht als mir, dass ich übersehen werde, dass es mir an etwas fehlt… Sie sind selten geworden, diese Gefühle und doch alt bekannt. Trotz Sammeln von Dankesmomenten, trotz all den wunderschönen Situationen, Menschen, Dingen um mich herum.

Im Spätdienst desselben Tag komme ich zu einer Frau in meiner Tour, die erst seit kurzem unsere Unterstützung braucht (Ich bin Krankenschwester im ambulanten Pflegedienst). Sie ist sehr alt, sehr gepflegt, sehr freundlich. Ihre Frage an mich: „Warum kommen sie nicht jeden Tag?“ Ich erkläre, dass ich drei Töchter habe und als Teilzeitkraft arbeite. „Das ist ungerecht.“ Tränen schießen ihr in die Augen. Ich schaue sie verdutzt an, weiß überhaupt nicht was sie meint. Dann platzt es aus ihr heraus: „Ich habe zwei Söhne, mein größter Wunsch war immer eine Tochter. Ich habe keine und sie haben gleich drei. Das ist ungerecht.“ Sie fasst sich wieder, erzählt, dass sie ihre Schwiegertöchter sehr schätzt, aber ihr Schmerz, ihr unerfüllter Wunsch ist deutlich spürbar. Und macht mich nachdenklich: Es gibt tatsächlich Dinge, die ich in meinem Leben habe, die jemand anderes auch gerne hätte. So wie ich morgens in das Leben einer anderen Frau geschaut habe und dachte: Das ist ungerecht. Wieso sie und ich nicht? Es macht mich nachdenklich, weil ich nicht möchte, dass mir im Alter die Tränen kommen, wenn ich über unerfüllte Wünsche spreche, dass der Schmerz darüber noch immer eine solche Präsenz hat. Eine Lösung habe ich dafür nicht. Aber ich werde weiterhin meine Dankesmomente sammeln, den vielen unscheinbaren Momenten Bedeutung geben und mich mit dem Gedanken anfreunden: dass es bis ins hohe Alter unerfüllte Wünsche geben wird, dass sich nicht alles in meinem Leben erfüllen wird, dass nicht jeder Lebenstraum in Erfüllung gehen wird. Wenn ich lerne mit diesem Gedanken und dieser Tatsache nicht zu hadern und es annehme, ist der Schmerz im Alter darüber vielleicht nicht mehr so präsent. Für diese Begegnung bin ich sehr dankbar, sie lehrt mich so vieles!